Archiv für den Monat: Mai 2016

Die Verdrehung des Placebo-Effekts

▫ Der Placebo-Effekt war ursprünglich eingeführt worden als Bezeichnung
infolge von positiven Reaktionen auf a) Scheinmedikamente ohne Inhalt b)
skurille Heilmethoden ohne plausibles Wirkprinzip innerhalb medizinischer
Studien. Dabei sollten mit dem Placebo-Effekt gerade jene
Erklärungsalternativen bezeichnet werden, welche ein „mind over
matter”-Prinzip ausschlossen – denn ohne dessen Ausschluss hätte man die
Wirksamkeit der erwähnten skurrilen Heilmethoden ja auch gleich zugeben
können.

Als Beispiele für Erklärungsalternativen wären nämlich auch weitaus
alltäglichere Annahmen zu nennen, die mit weniger Annahmen auskommen – aus
theoretischer Sicht also dem Ökonomieprinzip von Occam folgen. Denn sie
müssen von weniger weitreichenden und umgreifenden Annahmen ausgehen, als
jene, die nötig wären, wollte man eine tatsächliche körperliche Veränderung
durch geistige Veränderung im Sinne des „mind over matter” Prinzips
behaupten.

Zum Beispiel der Interviewer-Effekt. Oder eine Verschiebung der
Aufmerksamkeit: Wer einen Tinnitus hat, der kann durch Ablenkung zwar nicht
erreichen, diesen loszuwerden, aber zumindest, ihn nicht beziehungsweise
bedeutend weniger wahrzunehmen. Und fühlt man sich bei Beschwerden nicht
bedeutend besser, wenn man damit endlich beim Arzt ist, als wenn man durch
Warterei gequält wird?

Es geht mir an der Stelle nicht darum, den Placebo-Effekt zu erklären,
sondern aufzuzeigen, daß man, um ihn zu erklären, nicht gleich mit Kanonen
auf Spatzen schießen muss, sondern alltägliche Alternativerklärungen
durchaus in der Lage sind, die positiven Reaktionen zu erklären. Genannt
seien hier bloss der Barnum-Effekt und

https://de.wikipedia.org/wiki/Barnum-Effekt
https://en.wikipedia.org/wiki/Response_bias

▫ Im Laufe der Geschichte aber wandelte sich der Sprachgebrauch. Zuerst
vollzog sich die Bedeutungswandlung dahingehend, daß der „Placebo-Effekt”
nun ein Bezeichner für OneMythExplainThemAll wurde: Die mind-over-matter
Interpretation wurde tatsächlich gebräuchlich. Statt der Aussage, daß der
Test-Patient lediglich ein Eindruck einer Besserung hat – die meistens so
gravierend gar nicht ist – wurde von einer psychologisierten Medizin nun
die Aussage vertreten, daß sich nicht die Wahrnehmung des Patienten in
Bezug auf das Leiden, sondern das Leiden selbst ändert. Nun, da man die
weitreichenden und umgreifenden Annahmen des „mind over matter”-Prinzips
zugegeben hat, könnte man natürlich auch die Wirksamkeit der skurillen
Heilmethoden zugeben. Diese Schlußfolgerung aber zieht man nicht. Der
Placebo-Effekt wird zu einem neuen Abgrenzungskriterium zu
Aussenseitertheorien. Die thatsächliche Veränderung des Leiden selbst darf
alleine mit der offiziellen „Theorie” von körperlichen Veränderungen durch
geistige Veränderung, nämlich der ›Psychosomatik‹ erklärt werden. In diesem
Fall gilt die Annahme dann irrigerweise als „wissenschaftlich”, was
ausreichendes Zeichen der totalen Verblödung der Medizin durch
Psychogeschwafel ist.

▫ Aber die Bedeutungswandlung wurde noch radikaler. Der Placebo-Effekt soll
heutezutage nicht nur im Sinn eines ›Abgrenzungskriterium‹ fungieren, um
die Wirksamkeit von Aussenseitertheorien zu entkräften. Die Bezeichnung
wird von der Psychologie zum Kampfbegriff, zum populistischen Beispiel für
die angebliche Wirkmächtigkeit des Seelischen über die Materie schlechthin erhoben. Wir
stellen also die Verdrehung der Bedeutung des sprachlichen Zeichens um 180°
im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Bedeutung durch die Psychosomatik
fest.

▫ Das Publikum verblüffen: „Isn’t our brain mavellous? The brain amazes!”

Immer wieder bedienen sich nun Psychologen und insbesondere doctor-writer mit ihren verkürzenden, rein auf Publikumswirksamkeit abzielende Darstellung medizinischer Thematiken des durch sie mystifizierten Placebo-Effektes um Bauernfängerei zu betreiben.