Archiv für den Monat: Juli 2016

Die Gegenstandsfrage in der Psychologie

Einleitung: „Die Psychologie ist ein besonders sicherer Typ von Wissen”

Wir betrachten zur Einleitung das offizielle Narrativ, mit welchem die Psychologie gerne im Disziplin-Aussen-Verhältnis auftritt.

erstens: Fundamentalwissenschaft

Das offizielle Narrativ schildert die Psychologie weniger als Einzelwissenschaft, denn viel mehr als Fundamentalwissenschaft, die den anderen Disziplinen an Sicherheit und Leistungsfähigkeit voransteht, gewissermaßen sogar deren Grundlage bilde, da sie – entsprechend dem empiristischen Dogmatismus – einem hintergründigeren und vor allem unwiderlegbaren, weil auf unmittelbarer Anschauung beruhendem Wissen, basiere.

zweitens: Mathematische Präzision & pure Rationalität

Die Psychologie – gerade als Fundamentalwissenschaft – stellt sich gerne dar als Unterdisziplin der Mathematik. Das Kalkül ist offensichtlich. Die Botschaft: Psychologie ist eine Wissenschaft mit mathematischer Exaktheit.

Psychologisches Wissen sei im Kern nichts weiter als „Datenerhebung” und „Datenauswertung” – und nichts darüber hinaus. Also „dogmenunabhängige,  objektive Rationalität.”

drittens: Selbstreflexion

Aber damit nicht genug. Schauen wir uns die überhöhte und absurd unkritische Verheiligung der Psychoanalyse durch Habermas an, wie sie typisch für die sog. „Intellektuellen” ist. In dem Werk „Erkenntnis und Interesse” findet sich eine Instanz des Narrativs über das zweite Attribut, welches der Psychologie neben ihrem hintergründigeren Erkenntnisbasis beigelegt wird. Nämlich ein schier überdurchschnittliches Maß an Selbstreflexion.

Entsprechend heißt das Kapitel auch „Selbstreflexion als Wissenschaft: Freuds psychoanalytische Sinnkritik.” Daß hier Freud im Fokus steht soll uns nicht stören. Die Zuschreibungen bleiben auch bei sich ändernden psychologischen Schulen stets dieselben.

viertens: Fortschritt (siehe Abgrenzungskriterien [in Arbeit] )

Der Disziplin wird Fortschritt in der Weise nachgesagt, sodaß a) die Psychologie durch den Fortschritt den naiven Seelenglauben vergangener Tage in Wissenschaft transformiere und b) qua ihrer Fortschrittlichkeit vorher nicht für denkbar gehaltene Erkenntnisse und Resultate auf den fremden Gebieten anderer Einzelwissenschaften erreiche.


Das ist natürlich ein gewaltiger Anspruch, den das Selbstbildnis der Psychologie hier über ihre Stellung unter den Wissenschaften erhebt.

Betrachten wir einleitend ein paar Beobachtungen über die „wissenschaftliche Seelenlehre”, die wir weiter unten noch vertiefen werden.

Problemaufriss: Das Narrativ steht im Gegensatz zu einigen Feststellungen

Gruppe I: Mangel an Theoriebezug

  1. » Das Zustandekommen psychologischer Aussagen aus allgemeinen Prinzipien ist nicht erkennbar.
  2. » Eine Menge von Aussagen lässt sich nicht eindeutig in eine Menge psychologischer und nicht-psychologischer Ausdrücke („Hochstapelei”, „Falschmünzerei”) einteilen.
  3. » Psychologische Überzeugungen sind beliebig: Auf die Frage, warum man heute davon ausgeht, daß Telepathie und Psychokinese nicht funktionieren – während andere Beeinflussungen der „Psyche” auf die „Materie” sehr wohl für möglich gehalten werden – kann eine Psychologie, ohne über theoretischen Hintergrund von der Psyche zu verfügen, nur antworten: „Weil die anderen Phantasmorgien aus der Mode gekommen sind.“

Gruppe II: Disziplin

  1. » Ohne einheitliche Begriffsbestimmung des
    ›Psyche‹-Begriffs ist die Einheit der Disziplin aufgehoben. Es lässt sich betreffs der Disziplin nicht feststellen, wie viele „Psychologien” es der Zahl nach gibt.
  2. » Betreffs der Unterarten der Psychologie ist nicht eindeutig (relativ abschließend) festzustellen, welche und wie viele sie sind.

Begriffsbestimmung

Eine Disziplin gründet sich auf der gültigen Bestimmung ihres Forschungsgegenstandes, d.h. ihres spezifischen Geltungsbereiches.

» Charakterologie macht Ansätze dazu, eine Wissenschaft zu heißen. […] Noch ungünstiger scheint es für die neue Disziplin, daß ihr Gegenstand, der Charakter, keine Realität besitzt, daß also, wie die Psychologie ohne Psyche mit den alten Worten weiter arbeitet, auch die Charakterologie eine gleichberechtigte Wissenschaft werden will, uns aber niemals verraten wird, was denn Charakter eigentlich sei

– Mauthner, Franz: Wörterbuch der Philosophie


Forderung, dass der Begriff scharf begrenzt sei (Frege):

„Eine Definition eines Begriffes (möglichen Prädikates) muss vollständig sein, sie muss für jeden Gegenstand unzweideutig bestimmen, ob er unter den Begriff falle (ob das Prädikat mit Wahrheit von ihm ausgesagt werden könne) oder nicht. […] Wenn man sich Begriffe ihrem Umfang nach durch Bezirke in der Ebene versinnlicht, so ist das freilich ein Gleichnis, das nur mit Vorsicht gebraucht werden darf, hier aber gute Dienste leisten kann. Einem unscharf begrenzten Begriffe würde ein Bezirk entsprechen, der nicht überall eine scharfe Grenzlinie hätte, sondern stellenweise ganz verschwimmend in die Umgebung überginge. Das wäre eigentlich gar kein Bezirk; und so wird ein unscharf definirter Begriff mit Unrecht Begriff genannt. Solche begriffsartigen Bildungen kann die Logik nicht als Begriffe anerkennen; es ist unmöglich, von ihnen genaue Gesetze aufzustellen. Das Gesetz des ausgeschlossenen Dritten ist ja eigentlich nur in anderer Form die Forderung, dass der Begriff scharf begrenzt sei. Ein beliebiger Gegenstand Δ fällt entweder unter den Begriff φ, oder er fällt nicht unter ihn: tertium non datur.”
– Frege, Gottlob: Grundgesetze der Arithmetik (Band II, § 56)

Wir sehen unschwer ein, daß diese Forderung von dem Begriff der „Psyche”, mit dem die „Psycho-logie” so erfolgreich operiert, ausgesagt werden kann.

Es existiert keine allgemein anerkannte Definition davon, was eine „Psyche” sein soll.

Man kann – aber nur scherzhaft – dazu anfügen, daß zumindest Einigkeit über die dogmatische Lehrmeinung darüber besteht, daß es eine „Psyche” gibt und diese also irgendwie irgendwas verursacht.

Vorfrage: Kann eine ›Psyche‹ überhaupt zum Gegenstand von akademischen Wissen werden?

Erheblich ist ebenfalls die Vorfrage, ob und unter welchen Umständen eine ›Psyche‹ überhaupt zum Gegenstand von (wissenschaftlichem) Wissen werden kann, oder ob es sich bei ihr nicht überhaupt eher um Spekulation säkularisierter Religion, um Nichtwissen bzw. Antiwissen, handelt.

Das „Psychische” ist eine Teilmenge des „Paranormalen.”

Können UFOs, Gespenster, das Monster von Loch Ness, der Yeti, Hellsehen,  und all der übrige Volksaberglaube, die viele von uns noch immer glauben, etwa zum Gegenstand akademischer Forschung werden?

Wenn wir also bei einer Hierarchisierung von Engeln nicht von „wissenschaftlichen Ergebnissen” sprechen wollen, aufgrund welcher besonderer Umstände sollten wir dann die Zergliederung (analysis) einer ›Seele‹ für etwas anderes halten als ebenfalls obskure Spekulation?

Und warum sollten wir bestmmten Individuen („Psycho-logen”) eine besondere Einsicht (λόγος) in dieses obskure „Wissensgebiet” zu- oder nicht zuerkennen? Zum Seelen-Gelehrten per Diplom?

Die Auswahl und Abgrenzung des Geltungsbereichs

Eine Wissenschaft ist ein System von Aussagen über einen bestimmten Geltungsbereich.

Entscheidet man die og. Vorfrage mit einem ‘ja’, dann muss durch eine gültige Begriffsbestimmung des Forschungsgegenstandes jener Bereich der durch die Disziplin legitim zu bearbeitenden Gegenstände sowie der Bereich legitimer Fragestellungen eingeschränkt werden.

Die gültige Bestimmung des Forschungsgegenstand und damit eines legitimen Bereiches von Forschungsthemen ist die Vollzugsgrundlage jeder Disziplin und damit von äusserster Wichtigkeit für eine solche.

„Psychologie ohne Psyche, Theorie ohne Gegenstand”

Bisher konnte jedoch noch keine Einigung darüber erzielt werden, was überhaupt der Forschungsgegenstand der Psychologie ist.

Dabei ist das Problem der Gegenstandsfrage für die Existenz einer Psychologie als akademischer Wissenschaft nicht weniger wichtig, als eine plausible Lösung des Leib-Seele-Problems.

Die Frage nach dem eigentlichen Forschungsgegenstand und damit dem Geltungsbereich psychologischer Untersuchungen, Fragestellungen und schließlich der Abgrenzung von anderen Disziplinen ist für die Frage der Existenzberechtigung der Psychologie als akademische Disziplin im mindesten von so zentraler Bedeutung wie die Lösung des Leib-Seele-Problems.

Die Kontroverse um die Gegenstandsfrage in der Psychologie als wissenschaftliche Disziplin wurde in den 70er Jahren so brisant, daß ihr eigens die Monographie ‘Eberlein/Pieper (Hg.): Psychologie – Wissenschaft ohne Gegenstand?‘ gewidmet wurde.

Bekannt geworden ist sie unter der Bezeichnung ‘Herrmann-Kirchhoff Kontroverse.’ Die Psychologie ist damals genausowenig zu einem Ergebnis gekommen, wie sie bis heute zu einem Ergebnis bezüglich des Leib-Seele-Problems gekommen ist.

Und dennoch konnten und wollten auch bis heute die an Universitäten tätigen Psychologen keine Einigkeit darüber erreichen was eigentlich Gegenstand ihrer Forschung ist.

Nichtssagende Nominaldefinition statt wissenschaftlicher Begriffsbestimmung

Die psychologischen Lehrbücher enthalten regelmäßig eigentümlicherweise keine Definition des Begriffs der ›Psyche‹.

Stattdessen enthalten Lehrbücher der Psychologie regelmäßig die Frage „Was ist Psychologie?” Die Antwort besteht aber stets nur aus einer nichtssagenden Nominaldefinition. Groeben/Westmeyer geben einige Beispiele in ‘Kriterien
psychologischer Forschung. S.17′:

  • »Psychologie ist die Wissenschaft von den Inhalten und den Vorgängen des geistigen Lebens, oder, wie man auch sagt, die Wissenschaft von den Bewulkseinszuständen und Bewufetseinsvorgängen.
  • »Psychologie . . stellt sich . . vor allem die Aufgabe, die Bewußtseinsvorgänge in ihrem eigenen Zusammenhang zu untersuchen.« (Wundt 1908, S. 2)
  • Im Gegensatz zur rein gegenständlich verfahrenden oder objektivierenden Psychologie, die nur Erkenntnismauern um die Liebe aufbauen vermag, hat die Daseinserkenntnis im liebenden Miteinander von Ich und Du ihren eigentlichen Grund und Boden (Binswanger 1942, S. 28)

Der Wikipedia-Eintrag zur ›Psyche‹  versorgt uns mit folgender weiteren nichtssagenden Nominaldefinition:

  • »„Psyche“ bezeichnet das System, in dem Wahrnehmen und Denken gründen, also das, worin die affektiven und rationalen Motive unserer Handlungen gründen. „System“ (Organismus) bezeichnet ein Gebilde, dessen wesentliche Elemente (Teile) so aufeinander bezogen sind, dass sie eine Einheit (ein Ganzes) abgeben.« (Quelle)

Anhand dieser Beispiele wird deutlich sichtbar, was Dubislav in seiner ›Definition‹ über die Nominaldefinition zu sagen hat. Er weist darauf hin, daß man es bei Nominaldefinitionen…

„…bloß mit willkürlichen Benennungen zu tun hat, aus denen allein keine Beschaffenheiten des so willkürlich Bezeichneten gefolgert werden können.”
– Dubislav, Walter: Die Definition. S. 7

Am liebsten möchte die Psychologie eine klare Festlegung auf einen bestimmten Gegenstandsbereich vermeiden. F.A. Lange verkündete die bekannte „Psychologie ohne Psyche”, die Psychologie heute verkündet die „Theorie ohne Gegenstand,” wobei, wie oben gesagt, es auch keine Theorie gibt, in welcher der Begriff der Psyche definiert werden würde.

Der Psyche-Begriff ist eine ideologische Leerformel

Die Psychologie gibt also von ihrem Forschungsgegenstand nichts anderes als nebulöse Nominalidefinitionen.

Alles, was damit Aussagen über irgendeine Psyche anbelangt ist damit viel zu unbestimmt, um überprüft werden zu können.


Wir haben hieraus zu schließen: Ein Psychologe kann an alles Glauben.

Legitimation als akademische Disziplin

Aufgrund der unten angeführten Punkte bestreiten wir ganz klar die Legitimität der Psychologie als akademischer Disziplin. Unter den im folgenden dargelegten Voraussetzungen läßt sich die Psychologie als akademische Disziplin nicht legitimieren.

Für gewöhnlich untersuchen Angehörige der selben Disziplin den selben Forschungsgegenstand, also den selben Gegenstandsbereich. Uneinigkeit aber darüber, was eigentlich erforscht werden soll, stellt daher ein großes Hindernis zur Herausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin dar.

Ohne Einigung auf einen Begriff der Psyche ist die Einheit der Disziplin aufgehoben. Effektiv handelt es sich um mehrere Wissenschaften.

Solange unter den an Universitäten arbeitenden Psychologen also nicht einmal  Einigkeit darüber zu erreichen ist, welchen Geltungsbereich sie untersuchen, liegen nicht einmal die Grundvoraussetzungen für eine Anerkennung der Psychologie als akademische Disziplin vor.

a) Wissenschaft als zeichen-sprachlicher Fachwerkbau

Ohne einheitliche Definition des Forschungsgegenstandes beziehungsweise kohärenter theoretischer Grundlage gibt es keine kumulative Forschung und folglich liefert die Psychologie „Wahrheiten” prinzipiell verschiedener Art.

b) Wissenschaft als Tätigkeit

Die Aufforderung „erforsche!” nicht eindeutig: Was sollten die Psychologen mit einer solchen Angabe auch erforschen?

Solange also wie oben bereits gesagt unter den an Universitäten arbeitenden Psychologen nicht einmal  Einigkeit über den Forschungsgegenstand hergestellt werden kann, muss man weiter daraus schließen, daß es der Zahl nach nicht bloss eine Forschungstätigkeit  gibt, die sich „Psychologie” nennt, sondern der Zahl nach gleich mehrere – vielleicht sogar eine Anzahl, die kaum mehr abzuzählen oder sinnvoll zu erfassen ist.

(Geschweige denn die schier unüberschaubare Anzahl an Publikationen, die sich aus einer schon unüberschaubaren Anzahl an Psychologien ergeben muss. Aber das ist an dieser Stelle nur eine Randnotiz.)

Man muss aber noch weiter schließen, als daß es a) bloss der Zahl nach  mehrere Forschungstätigkeiten gibt, welche sich als „Psychologie” bezeichnen, sondern, daß es b) im mindesten der Zahl nach  mehrere Forschungstätigkeiten gibt, die willkürlich einfach irgendetwas erforschen. Und schlimmstenfalls muss man c) schließen, daß es es sich dabei nicht einmal um Forschungs-Tätigkeiten, sondern überhaupt bloss noch um irgendwelche nicht näher bestimmten und bestimmbare Tätigkeiten handelt!

Klare Festlegung des Anwendungsbereichs und der Aufgaben

Ohne Festlegung auf einen Forschungsgegenstand und damit auf den spezifischen Bereich, welchen die Auswahl legitimer psychologischer Forschungsthemen umfasst, bleibt ebenso ungeklärt, was die eigentlichen Aufgaben der Psychologie sind.
Beziehungsweise, was ihr legitimer Anwendungsbereich ist.

Es ist genau zu klären, wer, unter welchen Umständen, aus  welchem Grund, aufgrund welcher Lehrmeinungen oder Ansichten, mit welchem Ziel, auf welche Art und Weise, mit welchen möglichen Ergebnissen und mit welchen Mitteln zum Widerspruch zum Anwendungsbereich psychologischer Wissens- und Handlungsbestände werden kann.

Wenn sie das nicht tut, dann kann zumindest aus wissenschaftstheoretischer Sicht „jeder, jederzeit” zum Gegenstand nicht näher bezeichneter psychologischer Handlungen werden. Eine andere Forderung als grenzenlose Ausbreitung kennt die Psychologie ohnehin nicht.


Wir haben hieraus zu schließen: die Psychologie verfügt über keine Vollzugsgrundlage als wissenschaftliche Disziplin.

Ein übergreifender theoretischer  Rahmen als Voraussetzung zur Gegenstandsbestimmung fehlt

Selbst, wenn die Psychologie ihren Gegenstand bestimmen wollte, so könnte sie es nicht, da sie im  theoretischen Vakuum herumdillettiert.

Die Psychologie besitzt keinen übergreifenden theoretischen Rahmen. Weil aber die Umgangssprache zu vieldeutig ist, kann nur sinnvoll in einem Axiomensystem definiert werden.

Die Angabe einer Definition eines Zeichens setzt also genau so wie die Angabe eines Beweises eines Satzes ein System von Grundvoraussetzungen voraus, hinsichtlich dessen definiert bzw. bewiesen wird.
– Dubislav, Walter: Definition. s. 33

Nach Hilbert hat eine wissenschaftliche Disziplin ein Axiomensystem aufzustellen, aus dem Aussagen, welche unter einer bestimmten Flagge gemacht werden, als Theoreme ableitbar sind.

„Wenn es sich darum handelt, die Grundlagen einer Wissenschaft zu untersuchen, so hat man ein System von Axiomen aufzustellen, welche eine genaue und vollständige Beschreibung derjenigen Beziehungen enthalten, die zwischen den elementaren Begriffen jener Wissenschaft stattfinden.

[…] jede Aussage innerhalb des Bereiches der Wissenschaft, deren Grundlagen wir prüfen, gilt uns nur
dann als richtig, falls sie sich mittelst einer endlichen Anzahl logischer Schlüsse aus den aufgestellten Axiomen ableiten läßt.”

– David Hilbert: Mahematische Probleme. (Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900.) 2. Die Widerspruchslosigkeit der arithmetischen Axiome.

Ausserordentliche Behauptungen ohne ausserordentlichen Grundlagenbezug

Nehmen wir einige Lehrmeinungen, welche die Psychologie dogmatisch als Wahrheiten verkauft. Der sogenannte Wissenschaftsjournalismus, übernimmt die Lehrmeinungen regelmäßig ungeprüft und verbreitet sie als Wahrheiten.

Von einem ontologischen oder auch rein logischen Standpunkt aus kann man keine Behauptungen über die angeblichen Wirkungen der Seele machen, ohne vorher eine Theorie von der Seele aufgestellt zu haben.

Würden also die folgenden Behauptungen – wie sie immer wieder an verschiedenen Stellen in den Medien auftauchen – den o.g. wissenschaftstheoretischen Adäquatheitskriterien Hilberts genügen, dann müsste es sich dabei um Theoreme handeln, die sich aus einem übergeordneten Aussagensystem der Psychologie deduzieren liessen.

  1.  Psychische und psychosomatische Erkrankungen betreffen viele Menschen.
  2. Millionen Menschen in Deutschland leiden an Problemen mit der Psyche.
  3. Die Ursache für Krankheit kann in der Psyche liegen
  4. Die Psyche hat Einflüsse auf körperliche Erkrankungen wie Bluthochdruck, Migräne, Schwindel, Tinnitus, Diabetes
  5. Wenn die Seele leidet, leidet auch der Körper. Psychische Probleme äußern sich deshalb oft in körperlichen Beschwerden.
  6. Schmerz und Psyche sind eng miteinander verwoben

Jeder Satz eines deduktiven Systems muß sich entweder aus einer bestimmten Gruppe von Sätzen des Systems (den Grundsätzen) in endlich vielen, durch die Ableitungsregeln zugelassenen formalen Deduktionsschritte deduzieren („beweisen”) lassen – oder er muß selbst einer dieser Grundsätze sein.

Oder umgekehrt formuliert:
Alle wohlgeformten Theoreme eines wissenschaftliches Systems sowie dessen wissenschaftlich gültig abgeleiteten Begriffe müssen  vollständig auf die Grundbegriffe zurückführbar sein.


Wir haben also zu urteilen  Keine einzige dieser wilden Behauptungen genügt den oben genannten Ansprüchen der Wissenschaftstheorie. Deswegen handelt es sich um dogmatische Lehrmeinungen und nicht Lehrsätze.

Worum es sich hierbei handelt sind, qua fehlendem theoretischen Rahmen, lediglich unprüfbare Zusammenhangsvermutungen zwischen uninterpretierbaren begriffen.

Der Sprachgebrauch setzt den „Psyche”-Begriff einfach unkritisch voraus

In jeder Aussage über die ›Psyche‹ ist immer eine petitio principii mit einer impliziten Existenzbehauptung vorhanden, die man logisch folgendermaßen formalisieren könnte…

∃x (P(x) Q(x))

(In Umgangssprache: „Es existiert eine Psyche und…”)

Bei Q(x) kann es sich zum Beispiel um das Prädikat handeln: „…diese hat einen Einfluss auf den Körper.” In dem Fall hätten wir neben der Existenzbehauptung über das Subjekt noch eine weitreichende willkürliche Behauptung im Prädikat in der zweiten Teilaussage.

Auf diese Weise werden unzählige Aussagen ohne jeden Beweis produziert.


Wir haben zu schließen

Es dürfen weder die Existenz einer Psyche noch ihre angeblichen Vermögen als selbst-evident hingenommen werden. Die Begriffe sind gültig zu bestimmen und die Zusammenhangsbehauptungen zu beweisen.

Nichts, was mit der „Psyche” und ihren angeblichen Vermögen zu tun hat, versteht sich von selbst.

Die Explikation  des Begriffs Psyche

Solange die Psychologen nicht ehrlich mit der Sprache herausrücken, was sie mit „Psyche” meinen, ist es nicht sinnvoll oder auch nur möglich, sich mit ihren obskuren Spekulationen über die Seele überhaupt auseinanderzusetzen.

Die Psychologie ist vorläufig ein Projekt und nichts weiter. Ob dieses Projekt realisierbar ist oder nicht, wird sich erst zeigen, wenn es ihr gelingt, die Gültigkeit ihrer Existenzbehauptung nachzuweisen.

Praxisorientierung, Betaetigungsdrang und fehlender Theoriebezug

Die Psychologie ist eine im Prinzip ausschließlich praxisorientierte Disziplin, die mit abenteuer-hungrigem Betaetigungsdrang eine Praxis ohne Fundament.

Adäquaterweise sei bei jeder Wissenschaft zunächst festzustellen,

  1. um was für eine Art von Wissenschaft es sich handelt und welcher Vorgehensweise sie sich bedient, („prius oportet cognoscere modum scientiae…”)
  2. bevor man sich an die Erkenntnis der Gegenstände machen kann, von denen die Wissenschaft handelt (“…quam procedere in scientia ad ea consideranda de quibus est scientia”).

Peter Atteslander findet harte Worte für eine derartige Praxisorientierung auf Kosten des Theoriebezuges, wie er in der Psychologie vorherrschend ist.

Empirismus in diesem Sinne ist entweder Unverständnis der Kriterien der empirischen Sozialforschung oder mehr oder minder bewusster Missbrauch. Er liegt immer dann vor, wenn ein Theoriebezug nicht nachvollziehbar ist […] und wenn empirisch zusammengestellte Daten fälschlicherweise unter dem Etikett der Wissenschaftlichkeit verwertet werden.

– Peter Atteslander: Methoden der empirischen Sozialforschung, S. 6

Das blinde und unreflektierte Anwenden von Kochrezepten aus dem wissenschaftstheoretischen Methodenfundus, wie er in der Psychologie betrieben wird, kann mit gutem Gewissen unter den Begriff der Cargo Cult Science subsumiert werden!

Wir werden an geeigneter Stelle noch einmal auf das psychologische Experiment im Rahmen des Empiristischen Programmes zurückkommen.

Psychosomatik: Ein plausibler Wirkmechanismus fehlt

Ein Sonderfall des o.g. Aktionismus ist die Psychosomatik. Die übergreifende Theorie, welche die Psychologie eben nicht vorweisen kann, enthält dann schließlich auch kein plausibles Wirkprinzip (das ungelöste Leib-Seele-Problem) für die Aussagen der Psychosomatik.

Die Psychosomatik ist ein Beispiel dafür, wie die Psychologie ohne theoretische Fundierung einfach so drauflos praktiziert.

(Die Leute werden es schon akzeptieren. Die Psychologie hat einen free-pass und kann sich alles erlauben.)

Der Wert psychosomatischer Forschungsergebnisse

Kann man psychosomatischen Forschungsergebnissen überhaupt einen Wert zusprechen?

Da ein theoretisch fundierter plausibler Wirkmechanismus fehlt, ist für die „Forschungsergebnisse” der Psychosomatik der gleiche Umgang zu fordern wie mit denen der Homöopathie:

„Thus, until homeopathy’s apologists can supply a plausible (nonmagical) mechanism […] Any study claiming to demonstrate effectiveness of a homeopathic medication should be rejected out-of-hand”
– quackwatch.org

Was berechtigt nämlich mangels von einer Theorie abgeleiteten Prognose dazu, Beobachtungsmaterial in dieser oder jener Weise zu deuten?


Wir werden auf den fehlenden Theoriebezug im psychologischen Experiment noch an geeigneter Stelle zu sprechen kommen.