Zentren für seltene Erkrankungen

Der Begriff ›Seltene Krankheit‹

Derzeit wird der Terminus der “seltenen Erkrankung”, insbesondere über die Medien, in den Köpfen der Menschen und in der Medizin etabliert. Spezielle ›Zentren‹ sollen die Zuständigkeit für ebensolche ›seltenen/unerkannte Erkrankungen‹ übernehmen. Bei vielen Patienten, die sich mit ihren Problemen von der Medizin bisher im Stich gelassen fühlten, werden so gezielt Hoffnungen geschürt. Die Gefahr besteht darin, daß sich die Versorgungssituation durch den neuen Begriff weiter verschlechtert statt verbessert. Alles-entscheidend ist, wie die Äquivokation der „Seltenen Erkrankung” interpretiert wird. Ärzte könnten versucht sein, lästige Patienten mit der Frage „Warum Sie schon einmal in einem ZUK?” abzuwimmeln. Und wenn in jenen Zentren der Psychosomatiker die Diagnosen genau so diktiert, wie derzeit in der normalen medizinischen Praxis, dann ist das Misserfolgspotential hoch, die Patienten laufen ins offene Messer.

Die quantitative Definition

Wie definiert man „Seltene Erkrankungen” ?

Das ZUK-Wiesbaden definiert eine „seltene Erkrankung” hauptsächlich quantitativ.

Eine Seltene Erkrankung bedeutet, dass weniger als 1: 2000 Menschen von ihr betroffen ist

Wikipedia definiert ebenfalls alleine quantitativ:

Als seltene Krankheit (auch orphan disease; engl.orphan „Waise“, disease „Krankheit“) bezeichnet man eine Krankheit, die so selten auftritt, dass sie in einer Praxis eines Allgemeinmediziners in der Regel höchstens einmal pro Jahr vorkommt.

Warum eine quantitative Definition nicht ausreichend ist

Die quantitative Definition des Begriffs der „Seltenen Erkrankung” ist nicht ausreichend. „Selten” muss auch im Zusammenhang von „Minderheit”, „Abweichung”, etc. gesehen werden.

Wie unsere Analyse des kontemporären Konzepts der „Funktionellen Störungen” zeigt, ist es mitnichten so, daß eine illegitime Psychiatrisierung Seltener Erkrankungen lediglich einen Einzelfall darstellen würde. Darum stellen wir folgende Behauptung auf:

Das Psychiatrisieren Seltener Erkrankungen ist in der Medizin an der Tagesordnung. Wie am Beispiel der „Funktionellen Störung” ersichtlich ist, bastelt die Psychologie an Konstrukten, die genau jenes auf alltäglicher Basis legitimieren sollen.

Daß die ZUKs ausschließlich mit quantitativen Definitionen arbeiten, gibt Anlass zur Sorge, ob jene sich nun auch für diejenigen „seltenen Erkrankungen” zuständig fühlen, die zu unrecht als „Funktionelle Störung” denunziert werden. Der Begriff müsste explizit nicht bloss seltene oder un-er-kannte, sondern auch möglicherweise un-be-kannte Krankheiten umfassen. (Ohne an sie den Anspruch der leichten Diagnostizierbarkeit zu stellen, versteht sich)

Geleugnete Sehstörungen

Einige Menschen leiden an dauerhaften migräne-artigen Sehstörungen – manchmal „visual snow” oder auch “eye tinnitus” genannt. Es ist ein Musterbeispiel für den Umgang der Medizin mit einer Symptomatik, die ihr unbekannt ist. Vor über zehn Jahren bereits wurde ein Forum gegründet, in dem sichtbar wurde, daß “man” als Patient kein Einzelfall ist sondern daß es im Gegenteil noch viele andere Patienten gibt. Aber zehn Jahre lang ist nichts passiert, wurden die Betroffenen nicht ernst genommen und ihre Symptome psychiatrisiert. Als Halluzinationen einer psychischen Störung hingestellt. Alleine dadurch, daß die Betroffenen die Forschung (d.h. einen großen Teil davon) selbst bezahlten, entstanden Aufnahmen von genau den „Korrelaten”, die von den Patienten in der Praxis zwar immer gefordert worden waren, für die aber die notwendigen (teuren) Untersuchungen nicht durchgeführt wurden.

Das offizielle Forum, in dem derzeit weiter an der Finanzierung von Forschung gearbeitet wird, hat momentan 3,400 Mitglieder. Statistisches Zahlenmaterial wie (5 in 1000) gibt es zwar nicht, aber die Summe der Betroffenen alleine spricht bereits für sich selbst. Selbst jetzt, wo die Studien eindeutig ein Korrelat zeigen, werden die Patienten noch von ihren Augenärzten oder Neurologen weggeschickt. Von der Medizin nicht ernst genommen. Die Biographie von Visual-Snow zeigt, daß Quantität noch lange kein Indikator für medizinisches Interesse, und hinzukommende Korrelate (die bisher noch von niemandem angezweifelt wurden. Im Gegenteil: Dr. Schankin erhielt den Harold G. Wolff Lecture Award der American Headache Society), sondern selbst in Verbindung mit handfesten Korrelaten noch immer kein Indikator für medizinische Akzeptanz ist.

Outsourcen von Patienten?

Es steht insofern zu befürchten, daß sich die Versorgungssituation durch ZSKs eher verschlimmert als verbessert, wenn Ärzte nun anfangen, die Zuständigkeit für Patienten mit schwierig zu diagnostizierenden Symptomatiken nur noch an ZSKs abzuschieben. Dabei sind ZSKs weit davon entfernt, eine tragende Rolle der medizinischen Primärversorgung übernehmen zu können. Es handelt sich um experimentelle Einrichtungen – bestenfalls. Fast alle ZSKs sind überlaufen, klagen über zu großen Andrang.

Und warum sollte ein Patient überhaupt sechs Monate bis ein Jahr auf eine medizinische Behandlung warten, die ihm doch ohnehin zusteht?

Kuriose Fälle

Der Begriff „Seltene Krankheit” kann auch in die Richtung der „Kuriosen Fälle” interpretiert werden. In den Medien werden diesen Fällen nicht nur mehrere Meldungen gewidmet, sondern sie sind nicht selten als eigenständiges Genre vertreten. Es handelt sich um eine journalistische Darstellungsform, die eine Patientenakte mit unerwartetem Ausgang erzählt. Sie dient lediglich dem Zweck der seichten Unterhaltung indem sie beim Leser Erstaunen hervorruft.

 

Spezialisierung oder Interdisziplinarität?

Zentren, die ihre Aufgabe mit „Weiterleitung an entsprechende Experten” umschreiben machen klar, daß für sie die Antwort auf das Problem nicht weniger sondern mehr Spezialisierung ist.

Seltenheit eine Eigenschaft der Krankheit?

Der quantitative Definitionsansatz macht die Seltenheit in gewisser Hinsicht zu einer Eigenschaft der Krankheit.

Seltene Erkrankungen bilden aber keine Taxonomische Klasse (genus proximum et differentia specifica) von Krankheiten, so wie für ein biologisches Klassifikationssystem die Katzen eine Art der Katzenartigen Raubtiere sind.

Die Bezeichnung muss sich also auf andere Gemeinsamkeiten bestimmter Krankheiten im Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem beziehen.

Seltene Krankheit ist eher eine Aussage über bestimmte Aspekte des Diagnoseprozeßes als über die Krankheiten selber. Es gibt folglich Krankheiten, die selten, aber keine Seltenen Erkrankungen sind sowie Krankheiten, die Seltene Erkrankungen, aber nicht selten sind.

Einig ist man sich u.a. darüber

1. daß Seltene Erkrankungen durch besondere Eigenschaften schwierig zu diagnostizieren sind, wofür sich die Bezeichnung „Chamäleonkrankheit” etabliert hat.
2. daß Seltene Erkrankungen in der Routine der Primärversorgung nicht identifiziert werden

Die Unterschiede liegen in dem „Warum?” Die Quantitative Definition sagt zum Beispiel lediglich, daß diese Schwierigkeiten an der quantitativen Seltenheit der Erkrankungen liegen.

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