Funktionelle Störung: „Krankheit, die keine ist”

Einleitung

Die Medizin behauptet die Existenz einer Patientengruppe von „eingebildeten Kranken.” Bei diesen handele es sich um Patienten, bei denen die Medizin bereits „alle” Untersuchungen ohne Ergebnis durchgeführt habe, so dass folglich „keine andere Erklärung” übrig bliebe, als dass die Beschwerden „psychogen” sein müssten. Derart sieht das logische Schliessen in diesen Fällen aus.Getragen wird dieser logische Schluss durch ein psychologisches Konstrukt, dessen typischen Merkmale wir an dieser Stelle beschreiben wollen.

Wir nehmen dafür u.a. Bezug auf

  1. Leitlinie
    Umgang mit Patienten mit nicht
    spezifischen, funktionellen und
    somatoformen Körperbeschwerden
    (link)

1 Typische Charakterisierung von Patienten mit »Nicht-spezifischen, funktionellen und somatoformen Koerperbeschwerden«

1. „Patienten, die fortgesetzt über allerlei körperliche Beschwerden klagen, ohne dass dem eine erkennbare Erkrankung zugrunde liegt

2. „klagt fortgesetzt über körperlichen* Beschwerden, obwohl” die Routinediagnostik „ohne Befund” verläuft.

3. „wiederholte Darbietung körperlicher  Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Ergebnisse.”

4. „Mißverhältnis zwischen Klagen und Befunden”

5. Patients complaining of pain and/or fatigue in the absence of known physical diseases

* Mit dem Attribut ‚körperlich’ deutet der Mediziner – es handelt sich dabei um Relationsbegriffe wie ‚rechts’ und ‚links’ – bereits an, dass es sich in Wahrheit um das Gegenteil von ›organischen‹ Beschwerden, nämlich um ›psychosomatische‹ oder ›immaterielle‹ Beschwerden handelt. Die Attribute werden nirgendwo eingeführt, der Sprachgebrauch setzt das Verständnis unkritisch voraus.

2. Körperbeschwerden als primäre (psychiatrische) Symptomatik: Woran erkennt man die ‚Funktionale Störung’?

Ziel des Konstruktes der „Funktionalen-Störung” ist nicht die psychosomatische Weltausdeutung schlechthin, wenngleich es die Bemühungen der entsprechenden Eiferer gerne zu seinem Fundament nimmt. Sie ist eine Teilmenge der „biopsychosozialen” Kampfbegriff-Theorie (welcher  ihrerseits das Ziel der aggressiven weltauslegerischen Expansion allerdings eignet.)

Mit Diagnosen wie „F45.0 Somatisierungsstörung” soll in der Hauptsache das Phänomen der „ungeklärten Symptomatik” aus der Medizin zu einer eigenständigen Krankheit der Psychologie transformiert werden. Es braucht also nicht einmal eine eigene psychiatrische Grunderkrankung wie eine Depression begründet zu werden, als deren Folge etwa die „psychosomatischen” Symptome erst auftreten würden.

Die Leitlinie spricht deshalb von »Körperbeschwerden als primärer Symptomatik.«

Noch offensichtlicher könnten die Anhänger kaum sagen, daß es ihnen um die Erledigung des Problems schwer zu diagnostizierender Symptomatiken geht.

Es ist verständlich, dass sich aus diesem Fehlen eigentlicher psychiatrischer Symptome die nicht zu unterschätzende Schwierigkeit ergibt, dieses Konstrukt noch sinnvoll zu bezeichnen. Das Konstrukt greifen und benennen zu wollen ist wie einen Pudding an die Wand schlagen zu wollen. Dadurch wird Kritik behindert. Der Stereotyp vom „Eingebildeten Kranken” tritt in immer neuen Konstrukten unter immer neuen Namen auf. Entzieht sich. Die psychiatrischen Konstrukte unter denen der Stereotyp auftritt sind stets zeitlich begrenzt („Modebegriffe”) und werden per Mehrheitsbeschluss („Binnenkonsens”) als sogenannte Syndrome ratifiziert. Das einzig Bleibende an ihm scheint die Paradoxie: „Krankheit, die keine ist”, oder wie Erich Kästner sagte: „Migräne sind Kopfschmerzen, wenn man keine hat.” Wir werden weiter unten bei den „atypischen Depressionen” noch zwei weitere Paradoxien kennenlernen.

Es ist verständlich, dass sich aus diesem Fehlen eigentlicher psychiatrischer Symptome hinzukommt, dass psychiatrische Terminologie der Euphemismustretmühle unterliegt, weil der diskriminierende Gehalt und die damit verbundene geringe Akzeptanz der Diagnosen bei den Patienten aus Sicht der jeweiligen Erfinder ein bloßes Mißverständnis darstellt, welchem sie durch das immer neue Einführen immer neuer Terminologien vergeblich Abhilfe zu schaffen suchen.

Das Konstrukt greifen und benennen zu wollen ist wie einen Pudding an die Wand schlagen zu wollen. Der Stereotyp vom „Eingebildeten Kranken” tritt in immer neuen Konstrukten unter immer neuen Namen auf. Entzieht sich. Die psychiatrischen Konstrukte unter denen der Stereotyp auftritt sind stets zeitlich begrenzt („Modebegriffe”) und werden per Mehrheitsbeschluss („Binnenkonsens”) als sogenannte Syndrome ratifiziert. Dadurch wird Kritik deutlich behindert. Das einzig Bleibende an ihm scheint die Paradoxie: „Krankheit, die keine ist”, oder wie Erich Kästner sagte: „Migräne sind Kopfschmerzen, wenn man keine hat.” Wir werden bei den „atypischen Depressionen” noch zwei weitere Paradoxien kennenlernen.

Die Schwierigkeit besteht also in der Bestandsaufnahme von für den Stereotyp zum jetzigen Zeitpunkt spezifischen Ausprägungen.

2.1 Welche Terminologie benutzt der Stereotyp der sogenannten „Funktionellen Störung” für sich selbst?

Die Leitlinie verwendet durchgängig die festgeprägte Formulierung „Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Koerperbeschwerden”

2.2 Welche DSM/ICD-10 Diagnosen sind komtemporär relevant?

Die Hypochondrie muss hier eigentlich an erster Stelle genannt werden, denn sie hat sich am längsten gehalten und ist ikonisch für den Stereotyp – ohne dass dieser aber auf jene Diagnose reduziert sei. Die „Diagnose” Hypochondrie beschreibt die “falsche Überzeugung, krank zu sein.”

Die Tabelle 3.1 der Leitlinie listet folgende Diagnosen aus „Psychosomatischer Medizin”,  „Psychiatrie” sowie der „Klinischen und Medizinischen Psychologie” als für diesen Kontext relevant auf.

  1. Somatisierungsstörung
  2. Undifferenzierte Somatisierungsstörung
  3. Somatoforme autonome Funktionsstörung
  4. Anhaltende somatoforme Schmerzstörung
  5. Chronische Schmerzstörung mit somatischenund psychischen Faktoren
  6. Hypochondrische Störung
  7. Dissoziative Störungen der Bewegung und Empfindung (Konversion)
  8. (Nicht wahnhafte) Körperdysmorphe Störung
  9. Neurasthenie
  10. „larvierte“ oder „somatisierte“ Depression

Auch wenn die Leitlinie nur die larvierte Depression, nicht aber die F41.1 (Generalisierte) Angststörung auflistet, gehört sie unserer Meinung nach dennoch zu den relevanten Diagnosen. (Siehe unten)

Die Tabelle 5.1: Aktuelle Klassifikation somatoformer Störungen nach ICD-10 bietet noch eine genauere Auflistung mit Nennung der Diagnoseschlüssel.

14. Nichts hält ahnungslose Ärzte in der Praxis davon ab, unbekannte Symptome schon einmal Psychosen („Wahngebilde”) zu diagnostizieren (diagnostizieren zu lassen) aber das ist nicht unbedingt spezifisch für den Stereotyp der „Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Koerperbeschwerden.”

3. Charakterisierung der Beschwerden: „Medizinisch nicht erklärbar”

1. „Befindlichkeitsstörungen, die sich medizinisch nicht begründen lassen”

2. „Anomalie ohne organisches Korellat” sowie „körperliche Symptome, für die es keine befriedigende organische Erklärung gibt”

3. „Somatisch  nicht  hinreichend  erklärte Körperbeschwerden”

4. „medically unexplained”

Formulierungen dieser Art sind das charakteristischste Stück Terminologie des Konzepts ›Nicht-spezifische, funktionelle und somatoforme Koerperbeschwerden‹. Es gibt bloss ein gravierendes Problem mit ihnen: in ihnen ist das Induktionsproblem klar und deutlich erkennbar. Karl Popper definiert den Induktionsschluss folgendermaßen

Als induktiven Schluß oder Induktionsschluß pflegt man einen Schluß von besonderen Sätzen, die z. B. Beobachtungen, Experimente usw. beschreiben, auf allgemeine Sätze, auf Hypothesen oder Theorien zu bezeichnen

Das oben genannte Induktionsproblem bezeichnet

die Untauglichkeit des induktiven Schliessens für die Wissenschaft. Die Verifikation einer Theorie wie „Alle Schwäne sind weiß” kann nicht durch singuläre Beobachtungen erfolgen.

Die genannten Beispielsätze verallgemeinern nun von der blossen medizinischen „Ungeklärtheit” einer Erkrankung zu einer Gattung der angeblichen „medizinischen Unerklärbarkeit” schlechthin.

Formulierungen dieser Art stellt die modale Behauptung auf, daß eine medizinische Erklärung der beklagten Beschwerden auch mittelbar nicht gegeben werden könne.


 

Wir erlauben uns, den Gehalt der Charakterisierung der Beschwerden folgendermaßen als Hypothese zusammenzufassen

„Es lässt sich kategorisch kein organisches Korrelat zu den geäusserten Beschwerden finden.”

Das ist der Versuch eines Negativ-Beweises durch Induktion. Aber es gilt: „You can’t prove a negative.” Die Hypothese des Nicht-Vorhandensein von etwas ist bloss die logische Umformung der positiven Hypothese vom ausschließlich Vorhandensein von etwas wo die Verifikation angeblich durch die Feststellung der Abwesenheit von etwas erfolgt. Etwa die These: „Es gibt den Weihnachtsmann nicht.” Keine Serie von singulären Sätzen („ich sehe keinen Weihnachtsmann”) wird jemals zur Verifikation dieser Hypothese ausreichen. Denn:

Wir müßten gleichfalls die ganze Welt absuchen, um dann sagen zu können, daß es etwas nicht gibt.

― Karl Popper: Logik der Forschung, s. 40

Der Anhänger der Theorie von der „Funktionellen Störung” aber möchte aus einer negativen Momentaufnahme induzieren, daß sich der Patient alles nur einbildet.

3.1 Ad-hoc Hypothese

Die Leitlinie sagt nicht, warum es überhaupt wahrscheinlicher sein sollte, daß ein solches Gebilde existiert, wie es hier vorgeschlagen wird, als daß schlicht und einfach die Unkenntnis der Medizin oder des einzelnen Mediziner das Ausbleiben einer richtigen Diagnose erklärt. Dies wäre nach Occam’s Razor die einfachste Erklärung. Alleine schon aus dem Grund muss sich die Diagnose den Hinweis gefallen lassen, daß sie voll und ganz den Charakter einer unökonomischen, zusätzlichen ad-hoc Hypothese hat.

4 Der Zirkelschluss der Diagnosekriterien von F45.0 Somatisierungsstörung

Der Diagnose F45.0 unterliegt unverkennbar ein Zirkelschluss. Es kommt in die Prämissen der Argumentation schon das hinein, was dann als gefolgerte These wieder herauszuholen ist.

Beweisen möchte man gerne die Konklusion:

„Diese nur scheinbar körperliche Symptomatik ist in Wahrheit psychosomatisch”.

Die Diagnosekriterien enthalten als Prämissen aber bereits die Aussage

„ungeklärte medizinische Krankheit alleine ist bereits ein psychologisches Symptom”…

Ähnlich wie ein Taschenspieler etwa Uhren oder Kaninchen aus einem Zylinderhut hervorzaubert, nachdem er sie vorher heimlich hineinpraktiziert hat.

4.1 F32.8 Larvierte Depression und andere „atypische” Störungen sowie F41.1 (Generalisierte) Angststörung

Ebenso logisch fehlerhaft wie die Definitionen der Somatisierungsstörung sind die Definitionen der Konstrukte „larvierte Depression” und „Generalisierte Angststörung”.

Sie verletzen eine ganz wesentliche Forderung an wissenschaftliche Hypothesen:

Ein empirisch-wissenschaftliches System muß an der Erfahrung scheitern können.

― Karl Popper: Logik der Forschung, s. 15

Grundlage für Wissenschaftlichkeit sind Falsifizierungskriterien¹. Diese fehlen hier nicht etwa aus „Pfusch” o.ä., sondern per Definition. Aus Absicht. Die Aussage ist, daß gerade das Fehlen von „typischen” Kriterien auf irgendeine seltsame Art „typisch” sei. Natürlich: Untypische Verläufe gibt es immer. Aber es braucht Chuzpe um diese Charakteristik zum definiens zu erheben.

– Kurz und knapp: Eine Diagnose ohne überprüfbare Kriterien, die mit keiner möglichen Tatsache mehr kollidieren kann, kann schlichtweg nicht wissenschaftlich sein.

Typisch für die Generalisierte Angststörung ist ebenso wie für die „larvierte Depression” das fehlende Falsifikationskriterium. Weil nicht anggebbar ist, „wovor?” die Person angeblich „Angst” hat, „worauf?” sich die Angst angeblich bezieht – und sich darum auch nicht ausschliessen lässt – hat das Konstrukt die paradoxe Formulierung der „Angst vor der Angst” etabliert.

In der Formulierung des „typischerweise Untypischen” haben wir eine ähnlich paradoxe Reduplikation wie in der “Angst vor der Angst”

___________________________________________________________________________ ¹https://web.archive.org/web/20130701095348/http://www.stephenjaygould.org/ctrl/popper_falsification.html#see

5 Der Begriff „funktionell”: Ein verschleierter Hylomorphismus

(Statement 6 der Leitlinie)

Das Narrativ arbeitet mit dem Begriffsgegensatz ›funktionell‹ und ›strukturell‹. Der Begriff ›funktionell‹ behauptet schlechterdings, daß ein Organ in seiner ›Funktion‹ beeinträchtigt ist, ohne daß Veränderungen der ›Struktur‹ erkennbar sind.

Der Gedanke an sich ist erkennbar absurd.

Aber die Differenzierung ›funktionell‹ und ›strukturell‹ ist schließlich nichts weiter als eine dünne und untaugliche Bemäntelung für einen Uralt-Hylomorphismus. Die Wörter „funktionell” und „strukturell” sind absichtlicher Namensirrtum. Wovon eigentlich die Rede ist, das sind Form (Seele) und Materie. Und der Materie-Begriff nun, welchen der besagte Hylomorphismus des „Funktionelle Störung”-Topos offenbart, ist nicht mehr als gleichgültiges Substrat für eine Form.

Der Begriff deutet an, dass überwiegend die Funktion, nicht die Struktur, eines Organ(system)s (z.B. des Herzens bei Herzbeschwerden, des Darms bei Verdauungsstörungen) bzw. der zentralnervösen Verarbeitung von Beschwerdewahrnehmungen gestört scheint.

Man muss hier schon von dem klassischen Kategorienfehler (Gilbert Ryle) sprechen. Ein Beispiel offenbart den Denkfehler, den die Anhänger des „Funktionelle Störung”-Topos machen. Angenommen jemand kauft sich ein „Paar Handschuhe.” Die „Struktur” des Organs betrachten die Anhänger der Theorie in unserem Beispiel als einen linken und einen rechten Handschuh. Die „Funktion” aber würden sie in dem Beispiel als ein „Paar von Handschuhen“ betrachten, das – und hier liegt ihr Denkfehler – verschieden von dem linken und dem rechten Handschuh ist, welche sie doch bereits haben. Sodass sie in der Summe 1x einen linken Handschuh, 1x einen rechten Handschuh und 1x ein Paar Handschuhe hätten.

Das Ganze wird sich vorgestellt als ein weiterer Bestandteil neben den Teilen, die es konstituieren. Oder anders gesagt: Es findet eine Verdoppelung statt.

Aus diesem Denkfehler leiten sie schließlich die nötige Unabhängigkeit von – in ihrer Sprache – der „Funktion” und der „Struktur” des Organs ab, um bei intakter Struktur den Funktionsdefekt zu behaupten.

Der Hylomorphismus, den wir im Kernbegriff des „Funktionelle Störung”-Topos  offengelegt haben, kennt übrigens gar keinen Funktionsbegriff.

Damit ist ein weiteres Mal die begriffliche Armut und fehlende Begründungskraft des Narrativs dargelegt.

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